Warum werden wir krank?

In einer Welt, in der die Evolution – so wie sie von Charles Darwin vorgestellt wurde – mehrheitlich noch nicht akzeptiert oder ver­standen ist, muss man sich nicht wundern, wenn Gesundheit oder Krankheit entweder als gottge­geben oder Schicksal empfunden werden. Die Evolution ist nicht nur unsere Geschichte, sondern auch unsere Zukunft. Auch in un­serem Körper herrschen Selekti­onsprinzipien, die zu Krankheit führen, aber auch zu einer ver­zerrten Wahrnehmung unserer Gesundheit.

Aldous Huxley hat es auf den Punkt gebracht: „Die medizinische For­schung hat so enorme Fortschritte gemacht, dass es überhaupt keine ge­sunden Menschen mehr gibt“ Das war vor mehr als fünfzig Jahren. Das Bonmot scheint sich aber im umge­kehrten Sinn eingebürgert zu haben. Daher mag die heutige Definition von Gesundheit der WHO kaum erstau­nen: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen.“ Ob Menschen gläubig oder ungläubig sind, diese Illusion wird anscheinend weltweit wider­spruchslos übernommen und führt dazu, dass ein Großteil unserer Mit­menschen gar gesund sterben will. Der Glaube an den medizini­schen Fortschritt hat diese Illusion genährt und es mag tatsächlich der Eindruck entstanden sein, dass evolutionäre Prozesse für unsere Gesundheit irrelevant sind. Evolu­tion scheint in der Wahrneh­mung der meisten Mitbürger etwas für Paläontologen oder Evolutionsbiologen zu sein, nichts, was uns persönlich angehen könnte. Aus diesem Grund möchte ich hier den Blick auf unser Immunsystem richten. In un­serem Körper läuft eine tägliche Evo­lution ab, ein für die meisten Mit­menschen völlig unbekannter Pro­zess, von dem sie glauben, er könne allenfalls mit einem Joghurt gestärkt werden. Es scheint, die Leute wollen das Gute in sich fördern, indem sie ihr Immunsystem mit wirkungsloser Alternativmedizin stimulieren. Das Immunsystem baut allerdings auf evolutionäre Prinzipien und hat kei­nen Platz für Wunschdenken. Bestandteile des Immunsystems

Das Immunsystem baut auf ei­nem einfachen Prinzip auf. Es be­nutzt Rezeptoren und Liganden. Im Wesentlichen sind dies drei Arten von Rezeptoren: Antikörper, die ken­nen die meisten, dann einen Rezep­tor auf den T-Lymphozyten und einen Rezeptor, der sich MHC nennt und der auf allen kernhaltigen Zellen vor­kommt. Da wir mit unserem Immun­system alles „immunologisch“ erken­nen müssen, vereinfacht, uns gegen krank machende Keime wehren, müssen wir mindestens gleich viele Rezeptoren haben wie es Gefahren gibt. Dies ist ein Problem, da unser Genom aus weniger als 30.000 Genen besteht. Das Proteom, also die Anzahl Eiweiße, die wir mit diesen Genen herstellen, beschränkt sich etwa auf eine halbe Million.Nur, mit einer halben Million Re­zeptoren könnten wir nicht genügend eigene oder fremde Strukturen er­kennen, also wendet das Immunsys­tem einen Trick an, wie man trotzdem zu mehr Gegenstrukturen, eigentlich Rezeptoren, gelangen kann. Es wer­den Gensegmente, kleinere geneti­sche Einheiten als die Gene, zufällig zusammengefügt. Man nennt dies „rearrangiert“. Dabei entstehen Milli­onen verschiedener Kombinationen, die wie ein normales Gen ablesbar sind. Dies reicht als Biodiversität noch nicht, um alles zu „sehen“, wes­halb ein weiterer Mechanismus ba­sierend auf fehlerhaftem Zusammen­schweißen der Gensegmente und Punktmutationen benutzt wird, um die nötige Vielfalt herzustellen. Es wird vermutet, dass wir dadurch min­destens 109 verschiedene Antikörper oder 1012 verschiedene T-Zell-Re­zeptoren herstellen können, also eine Biodiversität, die unser Denkvermö­gen längst übersteigt.

Erkenntnisgewinn als Sinn?

– Die Evolution trägt keinen Sinn in sich. Insofern ist die Frage, wozu das Immunsystem dient, sinnlos. Trotz­dem ist es so, dass das Immunsystem alles, was eigen ist, aber auch alles, was fremd ist, erkennen muss. Dies schließt sämtliche Eiweiße und viele Zucker dieser Erde mit ein, aber auch Strukturen außerhalb dieses Planeten, weil das Immunsystem seine Erkennungsrezeptoren zufällig generiert und die benötigten Rezeptoren erst nach dem Zu­sammentreffen mit Fremdem soweit vermehrt werden, dass sie uns dienen. Das Schreckliche dabei ist, dass das Immunsystem auf dem Prinzip Fremdenhass funkti­oniert, aber auch hier natürlich nicht im Sinn eines Sozial-Darwinismus. Survival of the fittest bedeutet auch hier, dass wir unsere Rezeptoren ständig verändern, sodass sie am bes­ten angepasst sind. Dieser Fremdenhass ist auch eine Sicht nach innen, da selbst Organe wie die Lunge, welche sich für den Laien innen befindet, für das Immun­system ein Außen ist. Das Immunsys­tem passt beispielsweise auf alle Ein­dringlinge auf, die via Lunge in uns eintreten wollen. Die zu observieren­de Fläche entspricht etwa der Größe eines Tennisplatzes. Somit wird auch ersichtlich, dass selbst ein Fötus nicht innen ist, sondern im Uterus ge­schützt wird, zum größten Teil außen ist und einen Problemfall für Mutter und Kind darstellt. Schließlich bein­haltet ein Fötus zu 50 Prozent die Genprodukte des Vaters, und die sind zu einem beträchtlichen Teil für die Mutter fremd.

Der Thymus und Darwins Finken

Früher wurde der Fremdenhass in der Immunologie als „Horror auto­toxikus“ bezeichnet. Eines der Haupt­probleme besteht nämlich tatsäch­lich darin, das Innen vom Außen zu unterscheiden. Da wir alle unsere Er­kennungsstrukturen zufällig generie­ren, basiert dies auch auf dem nor­malen evolutionären Prinzip der Se­lektion und Separation. Der Thymus, die Milke in der Kochsprache, ist ein derartiges Beispiel. Man könnte auch sagen, der Thymus ist der Ort des bru­talsten Numerus clausus. Sämtliche Zellen, die aus dem Knochenmark in dieses Organ einwandern, werden daraufhin überprüft, was sie er­kennen. Sind sie gegen uns selber gerichtet, eliminieren wir alle diese Zellen. So werden mehr als 95 Pro­zent der Zellen, die täglich durch den Thymus wandern, umgebracht. Was übrig bleibt, ist ein „survival of the fit­test“ und ist bereit, diejenigen Dinge, die im Körper nicht vorkommen, zu erkennen.

Somit wären wir endlich beim evolutionären Problem der Krankheit angelangt. Viele Krankheiten sind entweder immunologisch bedingt oder stark assoziiert mit der Leistung unseres Immunsystems. Dabei läuft leider ein evolutionäres Programm, nach welchem unser Thymus, also die Schule der T-Zellen, mit dem Al­ter degeneriert. Zur Zeit der Pubertät beginnt im Prinzip die Altersschwä­che. Wir leben von da an von unserer immunologischen Erfahrung und es wird immer schwieriger, Neues dazu­zulernen. Der evolutionäre Selekti­onsprozess wird für das Individuum immer schwieriger, weshalb evoluti­onäre Humanisten sich darüber im Klaren sind, dass man eigentlich ge­sunde Menschen impfen sollte, und nicht die Kranken. Was das Immun­system uns im Kleinen vormacht, könnten wir als Gesellschaft auch durchziehen, dass sich nämlich die gesunden Menschen impfen lassen, damit man immungeschwächte Men­schen möglichst nicht ansteckt. Solidarität steckt auch im Immunsystem.

Meme und Gene

Das Immunsystem ist möglicherweise auch ein Tor zum Verständnis der Meme. Im Immunsystem machen wir nicht mit Genen, sondern mit Gensegmenten neue Genprodukte, neue Rezeptoren, und können wesentlich mehr davon herstellen, als dies unser Genom rein zahlenmäßig ermöglichen würde. Meme sind womöglich etwas Ähnliches wie Gensegmente, also die kleinste Einheit eines Denkkonzepts. Möglicherweise ist ein einzelnes Mem eine geistige Einheit, die kleiner ist als ein Gedanke. Einen Gedanken könnte man daher als Memplex bezeichnen. Kommen die richtigen, kleinsten Gedankeneinheiten zusammen, könnte das ähnlich verlaufen wie bei richtig rearrangierten Gensegmen­ten, aus denen ein funktionsfähiger Antikörper oder T-Zellrezeptor ent­steht. Soweit die Analogie. Das Gen­rearrangement in unserem Körper läuft ständig auf Hochtouren, so dass pro Sekunde mindestens eine Million Genmanipulationen geschehen. Wir dürfen also getrost annehmen, dass unsere Gedanken Meme generieren und gleichzeitig von außen durch Memplexe, etwa von Viren (ein paar Genen in einer Eiweißhülle), ständig beeinflusst werden. Das Immunsys­tem bewerkstelligt so Immunität und schützt uns vor den Viren. Gewisse Kombinationen von Memen schei­nen aber auch zu Immunität zu füh­ren. Kleine Kinder glauben an den Osterhasen oder an das Christkind. Falls man ihnen genügend giftige Meme einverleibt, glauben sie am Ende gar an Gott. Glücklicherweise kann man selbst gegen derartige Meme immun werden: Religion ist somit heilbar.

Krebs, eine evolutionäre Evolution

Das Immunsystem überwacht unseren Körper auch, damit Fehler die innen auftreten, frühzeitig er­kannt und eliminiert werden können. Krebs ist eine derartige evolutionäre „Fehlleistung“. Die Aussage „Krebs ist sehr häufig“ wird wahrscheinlich von allen geglaubt, schließlich kann man in unserer Gesellschaft etwa 25 Pro­zent aller Todesfälle auf Krebs zu­rückführen. Dahinter steht oft die abnehmende Leistung des Immun­systems im Alter. Trotzdem: die Aus­sage „Krebs ist sehr selten“ ist eben­falls richtig. Wir haben oben gesehen, dass das Immunsystem theoretisch mindestens 1012 verschiedene Spe­zifitäten generieren kann. Rein theo­retisch wären es sogar weit mehr. Mehr Zellen haben allerdings keinen Platz in unserem Körper. Wir selber bestehen aus etwa 1014 Zellen. Da­mit eine Zelle zur Krebszelle wird, braucht es in einer einzelnen Zelle wahrscheinlich drei genetische Aber­rationen. Das heißt, es besteht eine verschwindend kleine Chance, dass eine dieser vielen Zellen alle drei Än­derungen in sich trägt und zur Krebs­zelle wird. Also auch hier versagt un­ser Denkvermögen bei der Vorstel­lung dieser Dimensionen. Krebs ist also sehr häufig und zugleich sehr selten. Es kommt ganz auf den Stand­punkt an.

Das Immunsystem als Polizeistaat

Man könnte das Immunsystem auch mit einem Polizeistaat verglei­chen. Schließlich geht es um die stän­dige Kontrolle von innen und außen, von eigen und fremd. Wir leiden da­her oft an Auswüchsen dieses Sys­tems, wenn der Körper sich selber fälschlicherweise zu stark erkennt, entsteht Autoimmunität. Das Im­munsystem richtet sich gegen uns, als ob dies der Preis wäre, den die Evolu­tion zu bezahlen hat, weil dem Ent­stehen von Leben am Schluss noch ein System zugemutet wurde, um un­sere Integrität zu überwachen. Wir werden also krank, weil Fehler pas­sieren. Wer mehr Gesundheit will, sollte also unter keinen Umständen sein Immunsystem stärken. Das könnte gefährlich sein.

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