Rund 160 Millionen Überstunden wurden im ersten Halbjahr 2009 in Österreich geleistet. Das hat seinen Preis! Der Zeitdruck wird für immer mehr Menschen zur gesundheitlichen Belastung. Die Angst vor dem Jobverlust verschärft das: In Österreich geht fast jeder zweite Beschäftigte in die Arbeit, auch wenn er krank ist, sagt eine aktuelle Studie.
Im Schnitt sind die heimischen Arbeitnehmer im vergangenen halben Jahr neun Tage trotz gesundheitlicher Beschwerden arbeiten gegangen. Frauen (43 %) tun dies etwas häufiger als Männer (40 %). Nach Branchen sind es besonders Beschäftigte im Gesundheitswesen (59 %), im Verkehr und Transportwesen (51 %) und im Handel (50 %), die trotz Krankheit arbeiten gehen, sagte dieser Tage der Meinungsforscher Reinhard Raml vom Institut für Empirische Sozialforschung (IFES), das im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich (AKOÖ) eine entsprechende Untersuchung gemacht hat.
Mehr als die Hälfte (58 %) der 7.800 Befragten begründeten ihre Entscheidung, krank zur Arbeit zu gehen, mit dem Pflichtgefühl gegenüber ihren Kollegen. 37 Prozent meinten, es wäre sonst Arbeit liegen geblieben, 31 Prozent hatten schlicht- weg keine Vertretung. Auch die Wirtschaftskrise spielt eine Rolle: Besonders hoch ist die Angst vor Jobverlust unter Arbeitern (33 %), während unter den Angestellten nur sieben Prozent Angst vor negativen Konsequenzen eines Krankenstandes haben.
Dieses Verhalten hat nicht nur direkt Auswirkungen auf die Gesundheit, sondern auch indirekt. Nach einer Untersuchung des Humaninstituts in Klagenfurt leiden 53 Prozent von insgesamt 1.000 Befragten an ihren Arbeitsplätzen unter vermehrtem Druck und fühlen sich mental ausgebrannt. Die psychosomatischen Beschwerden seien um etwa 70 Prozent gestiegen. Laut der Umfrage stellten die Teilnehmer bei sich in der jüngsten Zeit vor allem psychosomatische Beschwerden (56 %), Schlafstörungen (42 %) und hohen Blutdruck (38 %) fest – Mehrfachnennungen waren möglich. Über Burnout-Syndrome klagten 35 Prozent und über Konzentrationsstörungen 28 Prozent.
„Chronischer Stress schädigt das Herz. Außerdem verführt er dazu, zu rauchen, zu viel zu trinken, unter Zeitdruck das Falsche zu essen und sich zu wenig zu bewegen. Dieser Risikofaktor wird zwar immer wieder erwähnt, dennoch wird ihm noch zu wenig Beachtung geschenkt“, schreibt die Kardiologin Verena Stangl von der Universitätsldinik Charite in Berlin.
Der Begriff „Ausgebranntsein“ beschreibt laut Experten einen chronischen Zustand der totalen Erschöpfung, sowohl auf körperlicher als auch emotionaler Ebene. Burnout ist ein Gefühlszustand der Erschöpfung, der von zu viel Arbeit und Stress und zu wenig Erholung herrührt.
Der deutsche Psychologe und Buchautor Wolfgang Schmidbauer findet bei Motorradfahrern eine weitere Definition, die sich gut auf das Krankheitsbild übertragen lässt: „Unter Motorradfahrern bedeutet Burnout den Verschleiß eines Reifens, wenn bei festgehaltener Vorderradbremse so viel Gas gegeben wird, dass das Hinterrad durchdreht und der Pneu sich so stark erhitzt, dass er raucht oder sogar Feuer fängt; so lässt sich ein Reifen in wenigen Minuten ‚abfahren‘, ohne dass der Fahrer einen Meter vorwärts kommt.“Generell steckt man akuten Stress besser weg als chronischen Druck, ist Stangl überzeugt. „In unserer modernen Zivilisation ist es so, dass uns chronischer Stress zusetzt, weil wir ihn nicht adäquat abbauen können“ Selbst die Ruhe der letzten Zufluchtsorte werde durch Faxpiepen, Handyklingeln oder Laptop-Gerappel zerrissen. Die chronische Belastung führe zur Verspannung der Muskulatur – auch des Herzmuskels. Das könne Gefäßkrämpfe zur Folge haben. Zudem wird unter Stress eine Menge Hormone ausgeschüttet, dies kann zum schnelleren Aufbau von Ablagerungen in den Arterien führen. Die größten Gesundheitsrisiken durch Stress bestehen dann, wenn Menschen das Gefühl haben, ihre Arbeitssituation oder Lebensumstände nicht beeinflussen zu können.
Daten und Fakten
1,6 Millionen Überstunden wurden in Österreich im ersten Halbjahr 2009 geleistet – das entspricht laut Arbeiterkammer etwa 150.000 Vollzeitjobs. Im EU-Vergleich arbeiten die Menschen in Österreich deutlich länger in der Woche als in den meisten anderen Ländern. Die letzte gesetzliche Arbeitszeitverkürzung ist bereits 30 Jahre her. Ein Reduktion von Überstunden könnte auch den Unternehmen Vorteile bringen – kosten doch Überstunden 50 % mehr und belasten zudem die Gesundheit der Beschäftigten.
Lösungen
Neue Arbeitzeitmodelle, mehr Solidarität und eine bessere Verteilung von Arbeit könnten den Zeitdruck deutlich reduzieren, sind Experten überzeugt. „Fröhlicher Dezember“ nennt sich eine Initiative der slowenischen Regierung, die über Medien und kommunale Initiativen propagiert wird. Die Bevölkerung soll motiviert werden, mehr Zeit gemeinsam zu verbringen, Feste zu feiern, zu Konzerten zu gehen, Kontakte zu Nachbarn oder Arbeitskollegen zu intensivieren. Überall im Land werden Veranstaltungen organisiert. Der Grund: Der Dezember war bisher der Monat mit den höchsten Selbstmordzahlen und dem will man nun damit, dass die Menschen mehr Zeit füreinander aufbringen, entgegensteuern. Ein anderer Ausweg aus dem Zeitdruck ist deren bessere Verteilung: durch Reduktion der Arbeitszeit mit entsprechendem Einkommensausgleich. Was auf den ersten Blick unrealistisch klingt, zeigt bei genauerer Betrachtung, dass das selbst für kleinere Unternehmen denkbar ist. Die im ersten Halbjahr 2009 geleisteten 160 Millionen Überstunden entsprechen etwa rund 150.000 Vollzeitjobs. Dazu kommt, dass im EU-Vergleich in Österreich viel und vor allem lange gearbeitet wird. Mit 44,1 Wochenstunden belegen die Österreicher hinter Griechenland (44,3 Wochenstunden) Platz 2. Deutlich kürzer als in Österreich wird in Litauen (39,5 Wochenstunden), im wirtschaftlich zuletzt boomenden Irland (40,6 Stunden), in den skandinavischen Ländern (Dänemark 40,4 Wochenstunden, Finnland 40,5 Wochenstunden) und in Deutschland gearbeitet. Die letzte gesetzliche Arbeitszeitverkürzung ist bereits 30 Jahre her.
Zehn Prozent weniger Gehalt, dafür auch 20 Prozent weniger Arbeitszeit: Einem derartigen Angebot könnten laut einer neuen Umfrage des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung überraschend viele Österreicher etwas abgewinnen. Konkret gaben 33 Prozent an, dass sie ein derartiges Angebot ihres Dienstgebers sicher oder doch zumindest wahrscheinlich annehmen würden. Nur 28 Prozent schlossen das völlig beziehungsweise mit großer Wahrscheinlichkeit aus.