Expertenbericht. Mittlerweile hört und liest man es überall: Die Bevölkerung der Industrienationen bewegt sich zu wenig und sollte mehr körperliche Aktivität in den Alltag integrieren. Paradox ist nur, dass dem aktiven Alltag eine bewegungsarme Infrastruktur und Lebensweise in Beruf und Freizeit gegenüberstehen.
Bewegungsmangel wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als der viertwichtigste Risikofaktor für Mortalität bezeichnet und ist mit der Verbreitung nicht übertragbarer Krankheiten assoziiert. Dabei geht aus Umfragen hervor, dass viele Menschen grundsätzlich den Wunsch nach mehr Bewegung und ganz allgemein einem gesünderen Lebensstil haben. Trotz des Wunsches nach Veränderung, fällt es den meisten Menschen schwer, das umzusetzen. Was hilft um die eigene Motivation zu steigern?
Zur Steigerung der Motivation gibt es ein einfaches Medium: Ein Pedometer (Schrittzähler). Hiermit kann jeder Tag protokolliert werden und der Anwender erhält täglich eine Rückmeldung, wie bewegungs- bzw. schritteintensiv sein Tag war. Darüber hinaus fungiert die individuelle Steigerung der Schritte als großer Motivator. In vielen Publikationen, Kampagnen oder auch von Krankenkassen verbreitet ist von 10.000 Schritten pro Tag als Soll die Rede. Aber warum 10.000 und müssen es gleich so viele sein? Was steckt hinter dem 10.000-Schritte-Konzept?
Läuft man 10.000 Schritte täglich und beginnt damit in der zweiten Lebensdekade, hat man theoretisch die Chance, fast jede chronische Erkrankung zu verhindern. Fängt man damit später an, hat körperliche Alltagsaktivität immer noch enorme positive gesundheitliche Effekte, die fast allen medikamentösen Therapien überlegen sind. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass mehr Alltagsaktivität mit einem deutlich geringeren Risiko für Hypertonie, Depression, Demenz, dem metabolischen Syndrom und für nahezu alle kardiovaskulären Erkrankungen verbunden ist.
Studien aus England zeigen, dass schon 1.000 zusätzliche Schritte im normalen Tagesablauf den Blutzucker stärker senken als das pharmakologische Standardtherapeutikum für Diabetes, 1000 mg Metformin. Beeindruckend ist auch, dass 20 Minuten normale Aktivität nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit einen Blutzuckeranstieg komplett unterbinden kann. In anderen Studien wird berichtet, dass schon 2.000 Schritte täglich die krebsbedingte Mortalität um 4 Prozent verringern und das kardiovaskuläre Risiko um 14 Prozent senken und jedes weitere 2.000-Schritte-Paket den gleichen Effekt noch einmal addiert. Der beste Gesundheitseffekt ist bei 10.000 Schritten und mehr täglich zu erreichen, unabhängig vom Alter und noch wirksam bei über 90-Jährigen. Studien zeigen, dass regelmäßige Alltagsaktivität deutlicher und nachhaltiger wirkt als unregelmäßiger Sport.
Um die mit Bewegungsmangel assoziierten gesundheitlichen Risiken zu vermeiden, müssen die reduzierten Aktivitätsmöglichkeiten im Alltag durch bewusste körperliche oder sportliche Aktivitäten ausgeglichen werden. Die WHO empfiehlt Erwachsenen pro Woche eine Mindestaktivitätszeit von 2,5 h in mäßig anstrengender Intensität, bei sehr anstrengender Aktivität werden 75 min empfohlen. Die jeweilige Aktivitätszeit sollte dabei mindestens 10 Minuten am Stück andauern. Aune et al. zeigten allerdings, dass 150 Minuten (zwei bis drei Stunden pro Woche) nur etwa 15 Prozent Risikoreduktion im Bereich der nicht übertragbaren Krankheiten mit sich bringen ( bit.ly/2s9hvBq ). Wird diese Aktivität in Schritte umgerechnet, so entsprechen 150 Minuten körperliche Aktivität pro Woche etwa 3.000 Schritten am Tag. Das ist also deutlich zu wenig. Es können etwa 40 Prozent Risikoreduktion erreicht werden, wird die Aktivität auf fünf bis sieben Stunden pro Woche gesteigert. Empfohlen wird daher, mindestens 10.000 Schritte täglich zu laufen.
Der Vorteil beim Laufen ist, dass man sich bewegt ohne eine bestimmte Sportart erlernen zu müssen. Gelaufen werden kann überall, es lässt sich in jeden Alltag integrieren. Ob jung oder alt, ob schnell oder langsam, ob drinnen oder draußen, ob beim Telefonieren oder Einkaufen, ob barfuß oder mit Schuhen. Jeder mit einem entsprechenden Bewegungsapparat kann es tun.
Dabei kommt es natürlich auch sehr darauf an, wie bewegungsintensiv der Alltag sonst noch ist. Zu Beginn sollte man sich von dieser Schrittzahl auch nicht so sehr unter Druck setzen lassen. Sinnvoll ist es, die Schrittzahl allmählich zu steigern. Persönliches Endziel sollten aber die 10.000 Schritte sein.
Eine Empfehlung für jedermann?
Die Zahl der Schritte variiert sehr stark vom Alter, Berufsgruppe, Alltagstätigkeiten, anderen körperlichen Aktivitäten, Sport und Krankheiten. Hinzu kommt, dass jeder Mensch einen anderen Tagesrhythmus und -ablauf hat oder anderweitig aktiv ist, was nicht in Schritte umgerechnet werden kann, beim Fensterputzen, bei der Gartenarbeit, bei Bauarbeiten oder Kraftsport. Daher bieten mittlerweile viele Schrittzähler die Funktion an, körperliche/sportliche Aktivitäten namentlich einzutragen, welche dann in Schritte umgerechnet werden, um so das Schrittekonto zu füllen.
Studienergebnisse zeigen, dass zur Steigerung der Eigenmotivation ein Schrittzähler wahre Wunder bewirken kann, da man eine sofortige Rückmeldung des Geleisteten bekommt. Zu Beginn braucht man jedoch nicht gleich die 10.000 Schritte täglich im Fokus haben, sondern die Steigerung der Schritte im Allgemeinen. Wurden letzte Woche im Durchschnitt 5.000 Schritte täglich erreicht, dann heißt es nun, diesen Ist-Wert auf vielleicht 6.000 Schritte zu steigern. Ganz automatisch werden kleinere Distanzen eher zu Fuß bewältigt, weil man sich selbst motiviert und Schritte sammeln möchte. Zwei Fallbeispiele können dabei helfen, einen persönlichen Bezug zu bekommen, wie viele Schritte realistisch für den Anfang sein können.
– Fallbeispiel 1: Eine Person ohne Kinder mit einer Bürotätigkeit ohne zusätzliche Bewegung geht im Durchschnitt etwa 3.000 Schritte täglich. Neben kleinen Hausarbeiten sieht der Alltag recht bewegungsarm aus. 3000 Schritte können in etwa 30 Minuten bewältigt werden, somit bewegt sich die Person über den Tag verteilt lediglich 30 Minuten. Das ist viel zu wenig, zumal die Sportwissenschaft von zusätzlichen mindestens 30 Minuten Bewegung täglich spricht. Für diese Personengruppe ist es also empfehlenswert, zu Beginn den Ausgangswert zu verdoppeln also etwa auf eine Tagesbilanz von 6.000 Schritten zu kommen. Erreicht werden kann das Schrittziel ganz einfach: Kürzere Strecken konsequent zu Fuß gehen, das Auto stehen lassen oder auf dem Nachhauseweg schon eine Station früher aus dem Bus aussteigen, auf den Fahrstuhl verzichten (falls keine Gelenkprobleme vorherrschen). Wer viel Treppen steigt, kann seine Schrittzahl nämlich ebenfalls aufpeppen.
– Fallbeispiel 2: Eine Person mit 2 Kindern (drei Jahre, sechs Jahre) und einem Beruf als Verkäufer/in hat einen ganz anderen Tagesablauf als die Person im Fallbeispiel 1. Bereits als Verkäufer/in erreicht sie im Durchschnitt etwa 5.000 Schritte täglich. Neben den alltäglichen Hausarbeiten kann der Alltag mit Kindern auch sehr aktiv sein bzw. kann zum Pensum beitragen, indem die Freizeit mit den Kindern so aktiv wie möglich gestaltet wird. Das tut sowohl dem Kind als auch den Eltern gut: Ob Spazierengehen, Herumtollen oder Werken mit den Kindern. Egal was, jegliche Bewegung kommt dem Bewegungskonto zugute und das auf ganz spielerischer Art. Diese Personengruppe hat es also prinzipiell leichter, die 10.000 Schritte täglich zu erreichen. Sollte sich aber nicht demotivieren lassen, wenn es doch vorerst nur 8.000 sind.
Eine Frage der Motivation
Wenn die Argumente so auf der Hand liegen, stellt sich die Frage, warum wir uns nicht mehr bewegen. Ganz einfach: Uns fehlt dazu die Motivation. Bewegung ist häufig stigmatisiert mit Anstrengung und Sport und ist nicht in erster Linie intuitiv mit Gesundheit, einem positiven Lebensgefühl und Lebensqualität verbunden. Die Veränderung unseres gesellschaftlichen Umfeldes führt durch Zunahme der technischen Infrastruktur zu einer abnehmenden Notwendigkeit, sich zu bewegen. Das nehmen wir als Zugewinn an Lebensqualität wahr. Andererseits wissen wir aber, dass Bewegung einen gesundheitlich vorteilhaften Effekt hat. Der Zugewinn an Bequemlichkeit und wahrgenommener Lebensqualität überwiegt jedoch. Bei vielen Menschen ändert sich das, wenn es zu einem gesundheitlichen Ereignis oder einer Erkrankung gekommen ist. In diesem Fall verschieben sich Prioritäten und Bewegung bekommt einen höheren Stellenwert. Der Mangel an Motivation korreliert häufig umgekehrt mit der individuellen Wahrnehmung an Lebensqualität. Also je mehr Lebensqualität empfunden wird, desto geringer ist die Motivation etwas zu ändern, noch dazu, wenn es anstrengend sein könnte.
Leider kann Motivation nicht verordnet werden. Für jeden von uns gibt es Aspekte, bei denen wir eine hohe Motivation verspüren (Hobby, Liebe, beruflicher Erfolg, Lebensqualität durch Konsum). Eine selbst erarbeitete und festgelegte Priorisierung mündet dabei aber häufiger in einer individuellen Zielsetzung, die höhere Chancen auf nachhaltige Umsetzung hat. Um eine solche veränderte Priorisierung zu erreichen, können die Kombinationen von unterschiedlichen Prioritäten und Zielen im Sinne einer Strategie einen starken, motivierenden und nachhaltigen Effekt haben (Lotterie, Gamification, Incentives, Bonus- und Rewardprogramme). Die Kombination eines Ziels mit einer schwachen Motivation mit einem anderen priorisierten Ziel mit einer starken Motivation kann etwa dazu führen, dass ein bisher wenig lockendes Ziel eine viel stärkere Chance zur Verwirklichung bekommt. Auf diese Art und Weise können Ziele miteinander verankert werden und eine Veränderung der individuellen Priorisierung bewirken.
Prof. Dr. Peter E. H. Schwarz, der korrespondierende Autor, ist an der Medizinischen Klinik III, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der TU Dresden, tätig.
Der Originalbericht „So kriegen Sie 10.000 Schritte in den Alltag“ ist erschienen in „Info Diabetologie“ 11/2017, DOI 10.1007/s15034-017-1058-6, © Springer Verlag
Die App AnkerSteps hilft, täglich 10.000 Schritte zu erreichen und belohnt den User für jeden aktiven Tag mit barem Geld.
Die App setzt auf ein Belohnungs- und Bestrafungssystem, um den Nutzer 10.000 Schritte am Tag laufen zu lassen. Schafft der Nutzer es nicht, diese 10.000 Schritte zu laufen, dann verliert er seinen als Wette gesetzten Tageseinsatz, der je nach eigenem Antrieb und Selbsteinschätzung von 1 bis 20 Euro variieren kann. Schafft er es aber, sein 10.000 Schritte-Ziel zu erreichen, winkt ein Gewinn. Die App verankert somit die Motivation des Nutzers für das 10.000-Schritte-Ziel an einem unmittelbaren monetären Vorteil.