Eine ärztliche Zweitmeinung erhöht die Patientensicherheit, kann Ressourcen schonen und die Versorgungseffizienz steigern. Medizinisch nicht indizierte Eingriffe werden detektiert und verhindert. Ein Regulativ dafür fehlt aber. Die typisch heimische Lösung à la „es geht schon irgendwie, wenn es denn sein muss“ – die genügt nicht mehr.
Deutschland ist hinsichtlich einer Regelung des Anspruchs auf eine ärztliche Zweitmeinung – wieder einmal – ein bisschen formeller und „korrekter“. Mit dem sogenannten „Versorgungsstärkungsgesetz“ erhielten 2015 alle gesetzlich Versicherten einen von den Krankenkassen honorierten Rechtsanspruch auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung bei ausgewählten geplanten Eingriffen. Voraussetzung für jedes „Zweitmeinungsverfahren“ ist die Konsultation eines für die Indikation qualifizierten und in einem speziellen Register verzeichneten Arztes – auch dafür sind die Kriterien transparent geregelt. Befragt man heimische Experten über die Sinnhaftigkeit von Zweitmeinungen unter bestimmten Voraussetzungen und vor Therapieentscheidungen mit weitreichenden Folgen, findet man nur wenige kritische Stimmen. Zum einen könnten Zweitmeinungen eine unzureichende Diagnostik aufdecken, die Gefahr von Fehleinschätzungen bei der Therapiewahl vermindern oder sinnvolle Alternativen aufzeigen, zum anderen, wenn sie die Erstmeinung bestätigen, zur Sicherheit der Patienten – aber auch der behandelnden Ärzte – beitragen.
Im klinischen Setting gilt das „Vier Augen sehen mehr als zwei“-Prinzip bei komplexen Indikationen und Eingriffen als selbstverständlich. Bekanntestes, aber keinesfalls einziges Beispiel dafür sind die interdisziplinären Tumorboards. Im niedergelassenen Bereich ist das 4-Augen-Prinzip hingegen nach wie vor eher die Ausnahme von der Regel.
Die Gründe dafür sind vielfältig:
- Nach wie vor weit verbreitet ist die Skepsis vieler Ärzte, die ihre Kompetenz und Autorität gefährdet sehen, sollte ihre Meinung von Patienten hinterfragt oder gar angezweifelt und von Kollegen widerlegt werden.
- Aufgrund des Fehlens eines reglementierten Anspruchs, bleibt das Einholen einer Zweitmeinung in der Regel der Eigeninitiative der Patienten überlassen. Voraussetzung dafür wäre aber eine entsprechende Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine solche ist in Österreich aber immer noch unterdurchschnittlich ausgeprägt, wie zahlreiche internationale Studien belegen.
- Die größte Hemmschwelle bildet allerdings die fehlende Honorierung dieser Leistung durch die Sozialversicherung. Ohnehin überlastete Ärzte haben wenig Motivation, eine Gratis-Leistung aktiv anzubieten, Patienten sind verständlicherweise nur selten bereit (oder dazu in der Lage), ein paar hundert Euro in die Privatmedizin zu investieren.
Wenig Potenzial in Österreich
Letzteres musste DI Christian Schreiber, Inhaber einer der ersten und bislang wenigen Online-Plattformen für ärztliche Zweitmeinungen Doctoritas zur Kenntnis nehmen. „Der österreichische Markt für Zweitmeinungen ist praktisch inexistent“, bestätigt Schreiber: „Mehr als 90 Prozent der Patienten, die uns mit einer Zweitmeinung beauftragen, kommen aus dem Ausland, vorwiegend aus dem russischen und arabischen Raum.“ Die Anzahl österreichischer Patienten bewege sich seit der Gründung 2016 im zweistelligen Bereich – pro Jahr! Derzeit denkt Schreiber sogar darüber nach, die deutschsprachige Website abzudrehen, denn es sei „nicht absehbar, dass sich an der Situation in nächster Zeit etwas ändern könnte. Ich habe in zahllosen Gesprächen bisher noch keinen niedergelassenen Arzt gefunden, der eine Zweitmeinung empfiehlt – und schon gar keine elektronische.“ Auch Verhandlungen mit Versicherungen hinsichtlich einer Kostenübernahme seien bislang weitgehend am fehlenden Interesse gescheitert. Einzig mit der Wiener Städtischen wurde eine Kooperation ausgehandelt. Deren Privatversicherungskunden haben somit Anspruch auf eine Zweitmeinung. Meist wird dieses Angebot von jüngeren, Internet-affinen Kunden genutzt, häufig bei orthopädischen Fragestellungen. Eine Zweitmeinung kostet im Standardpaket (ein Experte, keine Übersetzungen) und ohne private Zusatzversicherung rund 300 Euro.
Gefragt nach seiner Einschätzung, wie oft die erstellte Zweitmeinung vom ursprünglichen eingereichten Therapievorschlag abweicht (interne Auswertungen von Daten gibt es dazu nicht), nennt Schreiber „etwa ein Drittel. Wobei ich dazu auch jene Fälle zähle, wo wir noch weitere Untersuchungen empfehlen, bevor eine Therapieentscheidung getroffen werden sollte“. Dieser Wert deckt sich durchaus Studiendaten, wonach etwa 20 Prozent der Ärzte bei Zweitmeinungen tatsächlich zu einer anderen Einschätzung als ihre Kollegen gelangen. Angesichts solcher Zahlen wünscht sich die Plattform Patientensicherheit auch für Österreich eine klare Regelung der Ansprüche auf Zweitmeinung inklusive Kassen-Honorierung, sagt deren Präsidentin Dir. Dr. Brigitte Ettl. Das wäre vor allem für Indikationen sinnvoll, „wo man vermuten kann, dass zu viel operiert wird“. Plattform-Geschäftsführerin Dr. Maria Kletecka, als Juristin mit vielen nachträglichen Rechtsansprüchen von Patienten befasst, vertritt die These, dass es bei einer eindeutigen rechtlichen und finanziellen Regelung „hinterher deutlich weniger Komplikationen geben würde“.
Davon ist auch Dr. Gerald Bachinger überzeugt. Daher fordert der Sprecher der Patientenanwälte mehr Transparenz statt des „jetzt informellen und oft stillschweigend tolerierten Rechts auf Zweitmeinung, vor allem was die Indikationen, Rahmenbedingungen und Honorarsätze betrifft. Bachinger ist ein Kämpfer der ersten Stunde für das Patientenrecht auf eine ärztliche Zweitmeinung. Schon vor vielen Jahren hat er darüber mit dem damaligen Ärztekammer-Präsidenten Dr. Walter Dorner verhandelt. Eine annähernd ähnlich große Bereitschaft, gemeinsam mit der Sozialversicherung an Lösungen zu arbeiten, nehme er bei den derzeitigen Kammer-Funktionären „eher nicht wahr. Ich erwarte da seitens der Ärztekammer keine Initiativen.“ Ärzte sehen laut Bachinger darin eher „eine Bedrohung und einen Angriff auf ihre medizinische Kompetenz als eine Unterstützung in schwierigen Entscheidungen“. Mehr Transparenz könnte solchen „Irritationen“ entgegenarbeiten und irgendwann „sogar zu einer Art Selbstverständlichkeit“ führen. Private Angebote wie jenes von Doctoritas hält Bachinger durchaus für sinnvoll, will das Thema aber nicht der Privatmedizin überlassen. „Es gehört im Rahmen des solidarischen Gesundheitssystems geregelt, andernfalls stärkt es nur noch weiter die 2-Klassen-Medizin.“
Zurückhaltende Ärztekammer
Dr. Edgar Wutscher, Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin in der Österreichischen Ärztekammer, sieht im Gegensatz zu Bachinger keinen Handlungsbedarf. Auch jetzt wäre es für „jeden Patienten, der das will“ möglich, eine Zweitmeinung einzuholen. „Wenn ein Kassenpatient zu Arzt A geht, sich untersuchen und beraten lässt, dann aber noch unsicher ist und zu Arzt B geht, wird er auch dort ein normales ärztliches Gespräch bekommen. Dazu braucht man keine Berechtigung der Kasse einholen.“ Grundsätzlich „finde ich es gescheit“, so Wutscher weiter, „dass sich ein Patient, der sich seriös Gedanken macht, eine weitere Meinung einholt. Wenn jemand zu mir in die Praxis kommt und es begründet, warum er meine Meinung wissen will, dann bekommt er sie auch. Der Ton macht dabei aber die Musik. Wenn ich das Gefühl habe, da regt sich jemand nur auf, macht persönliche Vorwürfe gegen meine Kollegen, dann sage ich nein.“
Tatsächlich gibt es auch offiziell eine Hintertür, um als Patient eine Zweitmeinung auf Kosten der Kassen einzuholen. Ein entsprechender Passus fände sich etwa im Kleingedruckten der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), erzählt Mag. Christoph Schmotzer, in der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) um Gesundheitskompetenz und Gesundheitsförderung bemüht. Patienten könnten demnach einen entsprechenden Antrag stellen und argumentieren, warum sie eine zweite Meinung brauchen. Anfragen der Ärzte Woche bei der ÖGK, wie oft solche Ansuchen gestellt und nach welchen Kriterien sie von der Kasse genehmigt bzw. abgelehnt werden, blieben leider unbeantwortet.
Fachgesellschaften fördern Zweitmeinung
Viele medizinische Fachgesellschaften hingegen unterstützen die Forderung nach einem verbindlichen Anspruch auf Zweitmeinung. „In einem Gesundheitssystem, in dem heute zu Recht absolute Transparenz gefordert wird, haben Patienten ein Recht auf eine Zweitmeinung, wenn sie sich nicht sicher sind wegen der Diagnose oder der Therapieempfehlung“, sagt etwa OÄ Dr. Waltraud Stromer, Präsidentin der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG). Das sollte auch im Interesse des behandelnden Arztes sein, findet Stromer: „Jeder gute Arzt empfiehlt von sich aus, in bestimmten Fällen eine Zweitmeinung einzuholen. Das habe nichts mit Inkompetenz zu tun, sondern mit seriösem Arbeiten.“ Patienten würden es sehr schätzen, wenn „man ihnen sagt: Ich bin mir nicht sicher, ich will aber, dass Sie die bestmögliche Behandlung bekommen, daher möchte ich, dass Sie noch zu einem Kollegen gehen“. Das erhöhe das Sicherheitsgefühl sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten und steigere damit eher noch das Ansehen des Arztes.
Daher hält es Stromer für „sinnvoll und wünschenswert“, dass sich „Ärztekammer, Patientenanwaltschaft und Krankenkassen an einen Tisch setzen, um Standards zu entwickeln und auch eine finanzielle Abdeckung für Zweitmeinungen sicherzustellen, wie das in vielen Ländern schon existiert“. Eine entsprechende Regelung hätte zudem den angenehmen Nebeneffekt, Ressourcen und Geld einzusparen, ist Stromer überzeugt und zitiert Studien, wonach ein Großteil bereits geplanter orthopädischer Operationen aufgrund von Zweitmeinungen abgesagt und durch konservative, multimodale Therapieansätze ersetzt werden konnten. Aber das ist eine andere Geschichte.